Verkannte Talente?

Glattgedanken

| Christian Ulrich

Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrperson und ein Primarschüler sagt Ihnen, dass er Golfprofi werden will. Selbstverständlich fragen Sie ihn sofort nach seinem Niveau, seiner Ausrüstung und dem bevorzugten Golfplatz. Und fortan werden Sie den Sportunterricht der Klasse ganz im Zeichen des heranzubildenden Golfprofis gestalten.

 

Das habe ich seinerzeit nicht gemacht; es sind gut 50 Jahre her. Es wäre auch schwierig gewesen, denn mein Schüler, er hiess Dölf, sprach nicht von Golfprofi, sondern wollte Cowboy werden. Wo hole ich die Pferde her und wie baue ich sie in den Unterricht ein? Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich gar nicht, sondern sagte ihm einfach, dieser Wunsch entbinde ihn nicht, zuerst einen anständigen Beruf zu lernen. Vielleicht sagte ich wirklich «anständig», meinte damit aber einfach handwerklich, normal, gut. Ich unterrichtete damals eine Realklasse, also die schulisch schwächere Hälfte eines Jahrgangs.

 

Das Wort «anständig» beschäftigt mich, weil der «Tages-Anzeiger» vom 12. November 2022 sich in einem Artikel über Lehrpersonen lustig machte, die anscheinend unter ihren Schülern kommende Sporttalente nicht erkannten. Sie sagten nämlich einem Jungen, der erklärte, er wolle Golfprofi werden, er solle etwas Anständiges lernen. Sein Vater leitete daraus ab, dass Golfprofi etwas Unanständiges sei. Der Zeitungsbericht - bzw. der Vater des Jungen - wirft den Lehrpersonen vor, den aufgehenden Stern des Golfprofis nicht erkannt zu haben.

 

Ich lese solches nicht zum ersten Mal und ärgere mich darüber. Im Nachhinein Lehrpersonen lächerlich zu machen, die nicht schon in der zweiten Klasse die Eiskunstläuferin oder eben den Golfprofi erahnen und fördern, ist unfair. – Übrigens: Bei der ersten Klassenzusammenkunft nach 15 Jahren war auch Dölf dabei, als Cowboy auf einer Ranch in Kanada.

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