Am 1. August wird unsere Musikgesellschaft 110jährig

Musikgesellschaft Glattfelden

| Harry Nussbaumer

Musik erfreut die Herzen und fördert die Geselligkeit. Das war die Triebfeder, die 1912 zur Gründung der Musikgesellschaft Glattfelden führte. Aber es war nicht das einzige Motiv. Es gab ja bereits den Posaunenchor, weshalb dann ein neuer Verein? Leider gibt es kein Vereinsprotokoll der Gründungsversammlung der Musikgesellschaft, die am 1. August 1912 im Restaurant «Brauerei» (Aarüti) abgehalten wurde. Trotzdem lassen sich die Umstände sowie das Gründungsdatum aus verschiedenen Dokumenten und Zeitungsausschnitten sehr gut rekonstruieren.

In Glattfelden musizierte seit 1902 ein Posaunenchor. Seine Auftritte werden meist im Zusammenhang mit Blaukreuzveranstaltungen genannt. Da wurde mit religiösen Untertönen musiziert. In seinem gesellschaftlichen Leben war Alkohol tabu, Abstinenz war hohes Gebot: Kein Bier nach der Probe!

 

Der Posaunenchor ist wohl Glattfeldens rätselhaftester Verein. Er wurde 1902 gegründet. Als «christlicher Musikverein Glattfelden (Posaunenchor)» wird er in einem Protokoll der Kirchenpflege erwähnt. Wir treffen ihn unter verschiedenen Namen: Christlicher Musikverein, Posaunenchor, Temperenzmusik, Blaukreuzmusik. Die Umstände zeigen, dass es sich immer um dieselbe Formation handelt.

 

Obschon der Posaunenchor sich vom dörflichen Vereinsleben mit seinen Gasthausbesuchen eher fern hielt, beteiligte er sich zweimal an den Bundesfeiern. Zur 1. Augustfeier 1907 berichtet das Protokollbuch des Töchterchors: «Sobald die Glocken ertönten begaben wir uns auf die Anhöhe oberhalb des Schulhauses. Hier hatte sich auch der Männerchor und die Temperenz Musik versammelt. Abwechslungsweise spielte die Musik oder dann sang der Töchterchor oder Männerchor. Zwei Jahre später schreibt die Wochenzeitung vom 30. Juli 1909: «Die Vereine von Glattfelden, Turnverein, Musikverein und Töchterchor gedenken am 1. August Abends auf der Hofwiese eine Feier abzuhalten». Über die Feier berichtet wieder das Protokollbuch des Töchtervereins. «Zuerst gings in Begleitung der Temperenzmusik in einem Zug um das Dorf herum, um dann auf den Gemeindeplatz beim Hof abzuschwenken. An Zuschauern fehlte es nicht. Turnproduktionen mit gesanglichen Vorträgen des Töchterchors wechselten miteinander ab, dazwischen spielte die Musik einige Lieder und Märsche».

 

Für den Posaunenchor war 1912 ein Jahr der inneren Spannung und wohl auch der Krise. Der Vorstand ruft in einem Inserat der Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung zur ausserordentlichen Mitgliederversammlung auf den 5. Juni abends 8.30 Uhr ins Schulhaus: «Unentschuldigt ausbleibende Aktivmitglieder werden als ausgetreten betrachtet und behandelt». Der Posaunenchor überlebte die Krise, wie Auftritte im November 1912, sowie im Mai und Oktober 1913 zeigen. Und noch im September 1928 anerbietet Pfarrer Marx der Kirchenpflege «die Mitwirkung des Posaunenchores bei Festgottesdiensten»; die Pflege nimmt «das freundliche Anerbieten an». Hingegen lehnt die Kirchenpflege Gesuche der Musikgesellschaft und des Sängerbundes ab, die im Frühjahr 1929 Konzerte in der Kirche veranstalten wollten: die Kirche sei für «gottesdienstliche und erbauliche Veranstaltungen frei zu halten». 1928 wurde also zwischen Posaunenchor und Musikgesellschaft klar unterschieden.

 

Am Verbandsfest der Schweizerischen Posaunenchöre von 1909 – Glattfelden war dem Verband 1908 beigetreten − beteiligte sich Glattfeldens Chor mit 16 Bläsern, 1916 zählte er noch immer 14 Bläser, 1928 spielte er noch in der Kirche und erhielt finanzielle Unterstützung für die Instrumente. Wann sich der Posaunenchor auflöste ist nicht bekannt.

 

Nun zur Gründung unserer Musikgesellschaft. Wir sahen, dass 1912 der Posaunenchor rebellischen Mitgliedern öffentlich mit Rauswurf drohte. Die stark religiöse Ausrichtung und absolut abstinente Haltung in Bezug auf alkoholische Getränke dürften etlichen Mitgliedern missfallen haben und hielt wohl musikfreudige junge und ältere Männer vom Eintritt ab. Folgendes Inserat in der Bülach-Dielsdorfer Wochenzeitung und im Bülach-Dielsdorfer Volksfreund vom 12. Juli 1912 dürfte durch die Rauswurfdrohung ausgelöst worden sein:

 

Nachdem von verschiedener Seite die Gründung einer neutralen Musikgesellschaft für den dahingeschiedenen Christl. Musikverein gewünscht wurde, laden wir Freunde und Gönner, welche eine solche Anregung in aktiver oder passiver Hinsicht zu unterstützen gedenken, auf Samstag den 13. Juli, Abends 8 ½ Uhr in die Brauerei zu einer Versammlung ein. Die Beauftragten

 

Der Christl. Musikverein war zwar trotz Hauskrach nicht dahingeschieden. Aber eine neue Musikgesellschaft wurde trotzdem gegründet. Der schriftliche Beleg dafür befindet sich eingeschoben zwischen Probenprotokollen der Musikgesellschaft vom 3. und 10. Februar 1926. Neun Namen werden als «Gründer des Vereins» aufgeführt, Eintritt 1. August 1912; womit wir das Gründungsdatum unserer Musikgesellschaft erfahren. Wir wissen nicht, welche Gründer vorher im Christlichen Musikverein Posaune spielten.

Dass die Musikgesellschaft nach der Gründung schnell als regelkonformer Verein funktionierte, zeigt ein Inserat in der Wochenzeitung vom 24. Januar 1913: Musikgesellschaft Glattfelden. Generalversammlung Samstag den 25. Januar, Abends 7 ½ Uhr in der Brauerei. Die werthen Passivmitglieder sind dazu freundlich eingeladen.

 

Vereine haben ihre Hoch und Tief, und Protokollbücher gehen verloren. Die Hauptsache bleibt das Überleben des Vereins. Dass die Musikgesellschaft Glattfelden nach 110 Jahren weiterhin froh musiziert, ist nicht nur ein Gewinn für die Musizierenden, sondern für die ganze Gemeinde. Es freut mich, dass es mir gelang, die verlorene Gründungsgeschichte zu rekonstruieren.

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