Ein Glattfelder nimmt eine gehörlose Ukrainerin bei sich auf

«Es ist nicht einfach, in einem neuen Land zu leben.»

| Ruth Hafner Dackerman

Bei Urs Risch lebt seit dem 7. Mai eine gehörlose Ukrainerin. Kommuniziert wird per Handy. Das Zusammenleben erweist sich als eine Bereicherung für den Gastgeber und die Geflüchtete.

Still und bescheiden sitzt sie da – Olha Stekolnikova, 48 Jahre alt, gelernte Schneiderin, wohnhaft bis vor kurzem in Mariupol in der Ukraine. Olha hat ein grosses Handicap – sie ist gehörlos, nimmt höchstens Vibrationen oder laute Schreie wahr. Im Alter von eineinhalb Jahren wurde das Kleinkind mit Verdacht auf Lungenentzündung gemäss Aussagen von Tochter Hanna falsch behandelt. Als Folge davon verlor Olha ihr Gehör und lernte nie sprechen. Der Begriff «taubstumm» ist in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet, wird aber von den Betroffenen als diskriminierend empfunden. Olha verfügt über die Gebärdensprache, kann sich mit dieser bestens mit ihrer 19-jährigen Tochter verständigen. Hanna hat die Gebärdensprache bereits als Baby durch ihre Mutter erlernt.

Gastgeber Urs Risch sitzt im Wintergarten seines Hauses an privilegierter Lage in Glattfelden. Der geheizte Swimmingpool verlockt zu einem Eintauchen ins Nass. Er habe sich nach Rücksprache mit seiner Frau Irmgard bei der Gemeinde gemeldet, um einer Ukrainerin einen Platz in seinem Haus anzubieten. Irmgard Risch hat einen zusätzlichen Wohnsitz in Eglisau, hat sich ebenfalls anerboten, eine ukrainische Frau mit Kind aufzunehmen.

Schon grössere Probleme im Leben gelöst

«Es gibt viele Leute mit einem eigenen Haus, in welchem nur eine Person lebt. So steht bei mir genügend Platz zur Verfügung», sagt Urs Risch. Als die Gemeinde Glattfelden sich meldete und anfragte, ob er eine gehörlose Ukrainerin aufnehmen wolle, habe er zuerst einmal leer geschluckt. «So what – ich habe schon grössere Probleme in meinem Leben gelöst», sei seine Reaktion gewesen. Mutter und Tochter seien vorher in Zweidlen untergekommen, doch das Zusammenleben mit anderen Flüchtlingen habe nicht optimal funktioniert. Hanna durfte bleiben, Mutter Olha fühlt sich inzwischen sehr wohl in Glattfelden. Beide besuchen sich regelmässig, kommunizieren per Handy via Messenger oder Whatsapp in Gebärdensprache.

Auch Urs Risch hat sich daran gewöhnt, mittels Handy zu kommunizieren. «Ich rede übers Mikrofon bei Google Translate oder DeepL. Der Text wird auf Russisch übersetzt, denn Olha spricht Russisch genauso gut wie Ukrainisch. Anschliessend tippt sie ihre Antworten ein.» Bei der Kommunikation geht es um alltägliche Themen wie kochen, essen, wer wann weg ist, wer was machen möchte. «Olha ist mein Gast. Sie darf alles aus dem Kühlschrank nehmen, darf kochen, was sie möchte.» Natürlich bot die Ukrainerin auch ihre Hilfe im Haushalt an. Doch Risch ist dies weniger wichtig. Über etwas freut er sich umso mehr. «Ich kaufe meine T-Shirts meistens in den USA, doch sie sind zu lang. Olha hat sich als gelernte Schneiderin anerboten, diese zu kürzen.» Gemeinsam packten sie die vor kurzem erstandene Nähmaschine aus, und im Nu waren die ersten vier T-Shirts auf die richtige Länge gekürzt. Olha halte sich oft in ihrem Zimmer auf, sei immer nett und dankbar, kommuniziere per Handy mit ihren Bekannten. «Nein, Unstimmigkeiten hat es bis jetzt nie gegeben. Besser hätte ich es eigentlich nicht treffen können.»

Haus in Mariupol völlig zerstört

Tochter Hanna - ausgebildete Webdesignerin -, welche sich gut auf Englisch verständigen kann, erzählt von ihrer Gefühlslage. «Unser Haus in Mariupol wurde vollständig zerstört. Wir richten uns darauf ein, mehrere Jahre hier zu verbringen, bis wir wieder in unsere Heimat zurückkönnen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt.» Ihre Mutter sei bei der Ankunft in der Schweiz desorientiert und enttäuscht gewesen. «Es ist nicht einfach, in einem neuen Land zu leben.»

Je länger das Interview dauert, desto entspannter zeigt sich Olha. «Möchten Sie Borschtsch probieren?», bietet sie spontan in Gebärdensprache an. Ihre blauen Augen leuchten, als sie sieht, dass das Nationalgericht den Gästen schmeckt. 460 Franken pro Monat erhält die Ukrainerin durch die Gemeinde. Ein Teil dieses Betrages wäre eigentlich für den Gastgeber als Beitrag für die Verpflegung vorgesehen. Urs Risch verzichtet darauf. «Sie soll das Geld behalten, davon einen 9-Uhr-Pass kaufen und sonstige Kleinigkeiten.» Kleider habe er in Hülle und Fülle von Bekannten bekommen – teilweise neu und noch nie getragen.

Für den 72-jährigen Risch, welcher 29 Jahre für die Swissair gearbeitet hat und anschliessend bis zu seiner Pensionierung als Leiter des Altersheims in Glattfelden tätig war, ist das Ganze eine schöne Erfahrung. «Ich geniesse Borschtsch – Olha ist begeistert von Raclette. Als nächstes steht Fondue auf dem Menüplan.»

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